Der große Doktor

Brennender Schmerz durchzuckt mich. Ich bin getroffen. Wie ein elektrischer Schlag durchstößt der Schmerz mein Bewusstsein, durchdringt jede Zelle und reißt ein Loch in meine Konzentration, mein linker Arm ist verletzt, wütend feuern die Schmerzfasern ihr Blitze ab, erreichen mein Gehirn und füllen meine Gedanken aus, ich bin der Schmerz, der Schmerz bin ich, alles rast, alles tobt. Dann endlich reagiert mein Anzug. Autobandagen umschließen meinen Arm, drücken die Wunde ab. Bleedstop wird eingesprizt, und während das Gel in die Wunde kriecht um weitere Blutungen zu verhindern, spüre ich schon die Injektion von Eustressin in den linken Oberschenkel. Langsam breitet sich das klare Gefühl wieder aus. Ich sehe die Welt wieder vor mir und fühle mich fokussiert. Der linke Arm fühlt sich taub an, läßt sich aber bewegen, ich überprüfe seine Funktionstüchtigkeit, der Einsatzbereitschafts-Bildschirm, der meine körperliche Leistungsfähigkeit anzeigt steht auf 79%. Wir müssen weiter, wir sind gleich da, das Ziel ist nahe. Ich spüre es. Jahrelang habe wir darauf hingearbeitet und heute soll es sein. Heute klopfen wir an die Tür des großen Doktors und wir werden laut und deutlich klopfen. Sein Zeit ist gekommen.

“Nehmen wir die 73er-Insulin?” Fragt mich Clarissa von hinten. Vor uns ging Gang um eine Ecke und dahinter stehen Gardisten, die wohl die letzten der Leibgarde sein müssen. Sie feuern aus allen Rohren und zeprasseln das Beton neben uns. “Sie haben schon die Maximaldosis von Aktivaton.” sage ich. Man hört die Ketten, an denen sie festgemacht sind. Sie sind so amphetamiert durch Aktivaton, dass sie, wären sie nicht festgekettet, sich blutbesessen uns entgegen geschmissen hätten. Ich drehte den Glucosator als Gegenmittel für das 73er-Insulin an meinem Anzug auf Stellung 5. Bald würde ich auf Reserve sein. Ich wartete bis meine Genossen sich präpariert hatten, dann warf ich den Vaporisator an. Dampfschwaden von 73er-Insulin bildeten sich und wogten mit dem Staubgemisch des zerstörten Betons durch den Gang. Sonnenstrahlen drangen aus den Einschusslöchern an der Wand und malten für einen kurzen Moment ein Bild bezaubernder Schönheit vor unseren Augen. Man konnte das strahlende Wetter draussen erahnen. Das Wort “Cumulus” kam mir in den Sinn. Mehrmals murmelte ich es vor mich hin um den Geschmack des Wortes zu spüren. Aber dann war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es sich dabei um Wolken oder um Geschlechtsverkehrsstellung handelte. Während der Nebel sich langsam legte wurde das Dauerfeuer der Gardisten weniger, bis es schließlich ganz erstarb. Das Insulin tat seine Wirkung. Ein Gardist schrie noch einer undeutlich Befehle, schließlich begann er “Over the rainbow” zu singen. “Er kann singen” ich war überrascht. Die wenigsten Züchtungs-Menschen waren mit Musik aufgewachsen. Von der Takt-Struktur des Liedes musste es aus dem 20. Jahrhundert stammen, ich konnte es aber nicht genau zuordnen. Ich drehte mich zu Clarissa um, sie konnte das Lied sicherlich genauer analysieren. Sie lächelte. Es war aber kein spöttisches Lächeln, wie sie es normalerweise trug, sondern ein trauriges. Clarissa war normalerweise immer die Überlegene, die Strategin, darauf war sie gezüchtet, aber dann und wann brach eine andere Clarissa durch, eine die Musik gerne mochte und die sich über ein Bild freute oder eine schöne Landschaft. Sie war auch diejenige, die der Meinung war wir bräuchten Kultur-Seminare und gegen allen Widerstand durchsetzte. Ich konnte mit den Kultur-Seminaren immer nur sehr wenig anfangen. Mir reichte es zu wissen, das auf einem der uns übrig geblieben fünf Rechner sieben Magnabyte Kulturinformationen gespeichert waren. Die Musikabteilung hatte ich, im Gegensatz zu Clarissa kaum angeschaut. Mich interessierten eher praktische Informationen. Auf dem Rechner war unter anderem eine vollständige französische Wikipedia-Kopie, die für den Aufbau der 9. Republik vorgesehen war. Seit dem Krieg und der Kontamination weiter Teile unserer Erde war so etwas eine Rarität. Es war sogar ein Artikel über den Kongo-Hafen enthalten. In den Slums der dortigen Stadt sind wir aufgewachsen und hatten unsere Revolution geplant. Der Kongo-Hafen war ein riesiges Schlammfeld, auf dem Millionen von Menschen hausten, einer verzweifelter als der andere. Leute mit Gendefekten oder solche die es nicht durch die Endkontrolle geschafft hatten. Ein verfluchter und kaputter Ort - und meine Heimat.

“Dann wollen wir mal” murmelte es hinter mir und ich gab mir einen Ruck. Das Gesinge hatte aufgehört. Wir gingen vorwärts unter Einsatz von Blendbomben, aber unsere Vorsicht war nicht mehr vonnöten, die gegnerische Stellung war nicht mehr aktiv. Es lagen vier Gardisten in den Stellungen, jeder mit einer Fußkette. Die Waffen, die sie hatten waren besser als gewöhnlich. Es gab sogar noch eine gut erhaltene Automatik. Zur Sicherheit setzte einer meiner Genossen jedem einen Kehlkopfschnitt. Diese Technik hatten wir uns angewöhnt, da ein Insulin-Vaporisator nicht immer zum endgültigen Tod führen und so mancher Kampfanzug Totgeglaubte wieder aktivierte. Wobei die Kampfanzüge der Gardisten normalerweise miserabler Qualität waren. Die anderen Genossen suchten die Magazine nach übrig gebliebener Munition ab. Hinter dem Gefechtsstand war eine große massive Tür aus Stahlbeton. Es war ein großes rotes Kreuz drauf abgebildet. “Der große Doktor” murmelte ich. “Wir sind dir nahe!” Die Tür war überdimensional und ein schweres Vorkontaminationsmodell. Zierbörden bezeugten von ehemaliger Pracht. Es war eine überdimensionierte Klinke angebracht. Ich musste grinsen, der große Griff war sehr hoch angebracht, so dass ein normaler Mensch sich klein vorkommen musste. Der große Doktor hatte ein Faible für Psychologie. Vorsichtig betätigte ich den Griff. Zu unserer Überraschung schwang die Tür geräuschlos und leise auf. “Warum ist sie nicht abgeschlossen” dachte ich, aber dann fesselte mich der Zauber des dahinterliegenden Raumes. Ich konnte mich nicht erinnern so etwas schon einmal gesehen zu haben. Teppich bedeckte den Boden, zwei Zimmerpflanzen standen in den Ecken, ein Tigerfell hing an der Wand. Es standen mehrere Dinge auf Sockeln herum. “Kunstwerke” kam es mir in den Sinn “das müssen Kunstwerke sein”. Ein gemaltes Gesicht eines Hundes blickte Ehrfurcht gebietend in den Raum. Im Zentrum stand ein alter Schreibtisch mit geschwungenen und geschnörkelten Beinen. Und hinter diesem Schreibtisch saß ein lächelnder kleiner Mann mit einer Glatze und einer Brille. Er wirkte ausgesprochen harmlos. Der große Doktor. Wir waren am Ziel. Heute würde die Herrschaft des Diktators zu Ende gehen. Irgendwie wirkte es unwirklich. Ich drehte den Schalter an meinem Anzug auf “Realitätsnah” aber das Zimmer blieb gleich. Dafür setzte der Schmerz in meinem Arm wieder ein, ich drehte in zurück auf “Kampfmodus”. Der große Doktor war offensichtlich unbewaffnet. “Setzt euch doch bitte!” sagte er und es klang keine Bitterkeit in seiner Stimme. “Wollt ihr einen Tee?” Als Kampfafrikanische-Züchtung trank ich normalerweise nur klares Wasser, einen Tee hatte ich noch nie probiert und erst recht hatte mir niemand einen angeboten. Ich fühlte mich unsicher, wir standen zu fünft in voller Kampfmontur, dreckig, verschwitzt und blutend vor dem Mann dessen Tod wir uns alle hoch und heilig geschworen hatte, und er bot uns einen Tee an. “Hände hoch” brüllte Kalus, einer meiner Mitstreiter, es klang ein wenig hilflos. Sein Maschinengewehr hielt vor sich, ich sah wie die Spitze leicht zitterte. “Hände hoch” brüllte er noch einmal und zum Zeichen, dass er es ernst meinte schoss er zwei Kugeln auf ein an der Wand hängendes Papier ab. Darauf war ein schwarzer Katze abgebildet. Der große Doktor schien nicht überrascht zu sein über den Ausbruch von Klaus, er machte allerdings auch keine Anstalten die Hände hoch zu nehmen. “Le Chat noir” sagte der große Doktor und zeigte auf das Bild “wisst ihr, dass das früher ein Kabarett war, ein Veranstaltungsort in Paris. Man hat dort gelacht und gesungen und Witze gemacht. Es muss die Leichtigkeit in Perfektion gewesen sein. Kein Krieg, keine Kontamination. Damals war die Welt im Aufbruch. Die Leute haben an das Gute im Menschen geglaubt. Alles schien möglich. Wollt ihr jetzt einen Tee. Ich hätte einen grünen Darjeeling für euch?” Er nahm eine Kanne, die auf dem Tisch stand und holte aus seinem Schreibtisch ein paar winzige Tassen. Ich merkte wie Kalus unruhig wurde. Ohne Kommentar schoss er auf die Kanne. Sie zerfiel in hunderte von Stücken. Wasser tropfte von dem Tisch auf den Boden. Der Teppich bekam dunkle Flecken, Dampf stieg auf. “Also gut, nehmen wir eure Regeln” sagte der Doktor und erhob sich. Er lief durch den Raum und lehnte sich an die Wand. “Was schlagt ihr vor”. Er war beleidigt, oder er tat zumindest so, als ob er beleidigt sei, aber seine Lippen umspielte ein Lächeln. Er war viel kleiner als angenommen und sein Gesicht wirkte harmlos und unschuldig. Er, der die Dihybrid-Synthetika-Herstellung revolutioniert hatte und ein weltweites Imperium von Chemikalenkampfstoffen aufgebaut hatte und damit die verbliebenen Regionen kontrollierte, er der Millionen im Hungertod hatte verrecken lassen, sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Mann? Er hätte als Essensmarken-Zuteiler arbeiten können, so gewöhnlich sah er aus. Nur seine Finger wirkten besonders an ihm, zart und feingliedrig ohne eine Spur von Gewalttätigkeit. Ich musste an meine eigenen Hände denken, von Narben übersät, fleischig und grob. Die typischen Hände einer Kämpferzüchtung. Ich fragte mich ob auch der große Doktor aus einer Genpool-Kreuz-Zucht entstammte. Die Südkoreaner hatten damals viel mit Intelligenz-Züchtungen hantiert. Vielleicht war er aber auch kreuzungsfrei, in seinem Alter musste es noch den ein oder anderen Menschen ohne Einkreuzung geben. Er hatte die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt und sah uns an. “Eure Zeit ist angebrochen.” sagte er und dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Ich wurde zur Seite geschleudert und die Welt um mich herum wurde schwarz.

Als ich erwachte wurde ich gewahr, wie der große Doktor an mir arbeitete. Er hatte den Anzug zum Teil entfernt und versorgte die Wunde an meinem Oberschenkel. Konzentriert hantierte er mit einer kleinen Klemme. In meinem Kopf dröhnte es. Ich war noch nicht vollständig wach. Eine Infusion tropfte in einen Adapter, der an meinem linken Arm befestigt war. Aus dem Augenwinkel konnte ich Clarissa in einer Blutlache sehen, dahinter Kalus und die anderen. Ich stöhnte. Die Schmerzen kamen aus meinem Oberschenkel und breiteten sich im Körper aus. “Lebe ich noch wirklich?” dröhnte es in meinem Kopf. “Lebe ich noch wirklich?” Ich versuchte ohne Erfolg meine Gliedmaßen zu bewegen. “Verdammt! Verdammt, Verdammt”. Langsam kam das Bewusstsein wieder und ich strengte mich an zu verstehen was passiert war und nicht zu sehr auf meinen Körper zu achten. Offensichtlich hatte es eine Explosion gegeben, vermutlich hatte der große Doktor sie gezündet. Er wirkte unverletzt. Larissa wahr wohl tot, die anderen ebenfalls. Aus irgendeinem Grund hatte er mich nicht getötet, sondern behandelte mich. Er hatte wohl bemerkt, dass ich wieder bei Bewusstsein war, denn er schaute mich an, sagte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Dann drehte er an einem Infusions-Regler und ich versank wieder in einen traumlosen Dämmerzustand.

Als ich erneut erwachte saß ich auf dem Sofa und fühlte mich sofort klar und wach. Der Doktor musste mich hier hingesetzt haben. Er selber saß mir gegenüber am Schreibtisch. Er schrieb oder zeichnete etwas auf ein Papier. Bei diesem Erwachen fühlte ich mich gut, meine Arme und Beine konnte ich bewegen, ich hatte mehrere Verbände aber mein Kopf fühlte sich klar und gut an. Mein Anzug hatte er komplett entfernt und auch meine Funktionstüchtigkeitsanzeige war nicht da, aber ich schätzte meine körperliche Einsatzbereitschaft bei ca. 80%. “Wie fühlst du sich?” Fragte der Doktor. Er wirkte wirklich interessiert. Ich schaute ihn an und sagte kein Wort, ich wollte ihm nicht die Genugtuung geben gewonnen zu haben, mein Stolz befahl mir zu schweigen. Überdies hätte ich auch nicht gewusst, was ich ihm hätte sagen können. Ich fühlte mich beschissen und am Boden zerstört, wir waren so nahe gewesen und dann diese Unvorsichtigkeit. “Erst schießen, dann fragen” hatte Kalus immer gesagt, “Kein Zögern”. Wie hatte es nur soweit kommen können? Und dann warum rettet der große Doktor mich? Wieso behandelt er mich? Körperlich wieder aufgebaut war ich eine Gefahr für ihn. Auch geschwächt bin ich größer und stärker als er. Er saß ruhig da und schien keine Angst zu haben. Wieder einmal fiel mir auf wie fein er wirkte, so ganz und gar nicht grobschlächtig, wie die meisten von uns Kampfzüchtungen. “Was machen die Schmerzen im Bein?” fragte er und deutete auf meinen Oberschenkel. Die Schmerzen im Bein waren nicht mehr da, aber ich schwieg. “Es tut mir leid,” sagte er und verwies auf meine Mitkämpfer. “Aber glaube mir, es ist besser so. Kalus wäre dir noch gefährlich geworden. Und auch vor Clarissa hättest du Angst haben müssen.” Vor Clarissa hätte ich Angst haben müssen? Was zur Hölle meint er damit. Kalus war auch für mich ein Gefahr gewesen, ich wusste das, aber Clarissa, wir haben solange ich denken kann zusammen an unserer Revolution gearbeitet. Wut stieg in mir auf. Ich überlegte: “Wenn ich mich mit einem Satz auf dem intakten linken Bein nach vorne werfe, dieses kleine Steinobjekt auf dem Schreibtisch mit der Hand nehme könnte ich ihn vielleicht erreichen und einen Schwinger auf seinen Kopf landen.” Er musste meine Augenbewegung gesehen haben, langsam und geduldig nahm er das Steinobjekt vom Tisch und legte es in eine Schublade. “Deine Zeit wird kommen, hab nur noch ein wenig Geduld, alles um was ich dich bitte ist ein kleines Gespräch. Bevor deine Rebellenarmee hier eindringt können wir noch einen Tee trinken?” Ich nickte. Er hatte recht, auch wenn er mich kampfunfähig gemacht hatte und Clarissa und Klaus und die anderen ausgeschaltet hatte, seine Zeit war zu Ende, die Rebellenarmee war zwar dezimiert, aber unser Sieg war nicht mehr aufzuhalten, die Gardisten liefen zu uns über. Die neue Zeit war angebrochen, auch wenn ich sie nicht mehr erleben würde. Vielleicht will er sich mit mir seine Freiheit erpressen? “Zu schade, dass mit der Kanne” sagte er, “vielleicht kann man sie noch kitten. Ich habe ein kleine Tube Kleber in der linken unteren Schublade. Nur falls du das mal in Angriff nehmen willst.” Er stellte eine dampfende Tasse vor mich hin “Vorsichtig trinken, der Tee ist noch sehr heiß” merkte er an. Dann sprach er weiter: “Ich habe mir euren Anzug angeschaut, ein sehr gutes Modell.” Sagte er “Vor allem gefällt mir eure Injektor im Rückenbereich, kaum Stichspuren, kaum zurückbleibendes Narbengewebe. Und ich vermute ihr werdet eine Bioverfügbarkeit eurer Aktivaton-Variante von mehr als 80% damit erreichen. Wo habt ihr das hergestellt? Ist es eine Eigenentwicklung?” Sein Stimme klang interessiert. “Es ist eine Eigenentwicklung und hergestellt wird der Anzug in Nairobi.” Das war zum Teil gelogen, unsere relevanten Produktionsstätten würde ich nicht verraten. Er nickte nur. “Und das Second-line Konzentranin wie habt ihr das synthetisiert. Ich habe die Struktur analysiert. Zur Synthese werdet ihr eine Menge Guanin-Katalysatoren gebraucht haben und viel Coltan.” “Ja, das kann man wohl sagen” erwiederte ich. “Wir haben eine Menge Coltan gebraucht. Clarissa und ich haben von Anfang an viel Zeit darauf verbracht, die Coltan-Schürfung zu sichern. Und die Synthese ist eine Eigenentwicklung von mir.” Er schaute mich mit seinen tiefen Augen an und es war wie wenn ein Damm in mir brach, ich erzählte alles, ich kam ins Reden und konnte nicht mehr aufhören. Und auch wenn es irgendwo in meinem Kopf hämmerte: “Er hat dir ein Enthemmungs-Cocktail gespritzt” so konnte ich doch nicht anders. Ich erzählte alles was mir auf dem Herzen lag in dieses lächelnde Gesicht, das interessiert zuhörte und ab und an nickte. Und mit jedem Wort was meine Lippen verließ fühlte ich mich erleichtert, all der Schmerz und die Entbehrung fiel von mir ab. Ich erzählte wie Clarissa und ich in den Züchtungs-Slums des Kongo-Hafens aufwuchsen, ausgestossen von der kaputten Gesellschaft, die rings um uns zerbrach. Ich erzählte von meinen Vergewaltigungen durch marodierende berauschte Banden, die von ihm, dem großen Doktor bezahlt wurden. Ich erzählte wie wir die Revolution in nächtelangen Klebstoffräuschen herbeiredeten und wie wir die Revolution planten. Ich erzählte wie wir uns in die Biochemie vertieften und in vielerlei Eigenexperimenten, die Formel für das Second-Line Konzentranin fanden, das einen mittem im Aktivaton-berauschten Kampf ruhig und fokussiert werden lässt. Ich erzählte ihm von meinen Freunden, die an Klebstoff zugrunde gingen, durch Strahlenschäden in den Minen verreckten oder bei unseren Raubzügen in den chemischen Fabriken ums Leben kamen, erschossen von Söldnern, die in seinem Sold standen. Ich erzählte von Clarissa, die die auseinanderbrechende Gesellschaft, in der die Ausgestoßenen in der Mehrheit waren, begeistern konnte. Natürlich nicht ohne die Hilfe von Sympathin-Verneblern, aber trotzdem. Dann erzählte ich von unserem Siegeszug durch die Regionen. Unseren Zug durch die verstrahlten Ebenen von Malawi unserer Überraschungs-Attacke auf Nairobi. Dort war es auch wo wir feststellten, wie das so fest erscheinende Gefüge der Diktatur des großen des übermächtigen Doktors doch tönern und brüchig war, wie sehr er abhängig war vom Nachschub über den Nil und von der Beruhigung der Massen mit glücklich-machendem Soma. Ich erzählte von unserem wachsenden Mut und dem Zulauf von Leuten, die sich uns anschlossen. Und je mehr ich ins Reden kam desto berauschter wurde ich und desto mehr kehrte der Gedanke an unsere Mission zurück. Unser Sieg war nicht mehr aufzuhalten. Sein System war zusammengebrochen, wir hatten zwar immense Verluste erlitten, aber wir haben gesiegt. Herausfordernd schaute ich ihn an. Mit süffisantem Lächeln kam ich zum Schluss: “Und jetzt stehen wir hier, an den Scherben deiner Niederlage und magst du auch Clarissa getötet haben und mich in deiner Gewalt haben, so hat unsere Idee doch gewonnen. Deine Zeit ist vorüber.” Er schaute mich an, nicht überrascht, nicht wütend, mit teilnahmsvollen Augen, fast schon zärtlich. Geduldig hatte er mir die ganze Zeit zugehört. “Ihr habt gewonnen!” sagte er. “Aber was nun? Was machst du jetzt?” “Wir werden eine neue Gesellschaft aufbauen. Wir werden die Züchtungen abschaffen und neues natürliches Leben hervorbringen. Wir werden der chemikalischen Kriegsführung ein Ende setzen. Wir werden keine totailtäre Führung mehr dulden. Freiheit und Freiräume für alle!” Ich rief unsere Parolen, das wodran wir glaubten, ich schleuderte es in sein lächelndes Gesicht. Wie Waffen sollten sie sein, meine Worte. Diese Szene hatte ich mir immer vorgestellt. Aber je mehr ich ihm die Sätze an den Kopf warf, desto hohler wurden die Phrasen und mir kam auf einmal die Widersprüche unserer Parolen in den Kopf und die Schwierigkeiten, dessen was wir vorhatten. Sein ruhiges Gesicht ließ meine Argumente zerschellen, wie hohle Tonkrüge an einer festen Granitmauer. “Er schaut mich beinahe väterlich an” dachte ich “wie kann das sein? Ich bin sein Erzfeind, sein Widersacher. Er sollte mich hassen, sich winden.” Ich wollte den Gedanken verscheuchen und suchte insgeheim den Stimmungsregulator meines Anzuges, dann fiel mir aber wieder ein, dass ich ja keinen mehr anhatte. Ich unterbrach. “Meinst du man kann die ganze Menschheit auf Entzug setzen? Wann hattest du zuletzt Sex ohne Unterstützung? Welche Frau kann heute noch auf natürliche Art und Weise Kinder kriegen? Wie willst du die kriegslüsterne Masse wieder beruhigen? Ich kämpfe seit Jahren, doch nun ist es genug, ich bin froh, dass du da bist und das du so stark im Glauben bist.” Ich erschrak, der Schrecken der Nächte kam wieder. All unsere Verlogenheit und unsere hohlen Phrasen kamen mir in den Sinn. Zweifel stieg in mir auf. An mir, an der Revolution, an der gesamten Menschheit. “Ohne Soma-Produktion gibt es erneuten Krieg. Ohne Zuchtprogramme gibt es keinen Nachwuchs. Ohne Stimmungsaufheller gibt es kein Lachen mehr. Ohne dem was du hasst, kannst du nicht leben.” Mit diesen Worten stand er auf, schritt zum Fenster, schaute in die Weite, schenkte mir ein Lächeln und dann, dann sprang er. Durch das offene Fenster hinein in den blauen Himmel mit den Wolken. Es waren Cumulus-Wolken ich erinnerte mich wieder. Das Licht strahlte in den Raum. Das was Übrig war von der Welt war unter meinem Kommando. Ich fühlte mich hilfloser denn je.